„Bei uns bekommt der Mensch Superkräfte“
Im Chefsesselgespräch mit Materna-CEO Michael Hagedorn erklärt Aleph-Alpha-Chef Jonas Andrulis die Besonderheit der KI „Luminous", warum die Technologie eine industrielle Revolution verspricht und welche Rolle Partnerschaften und der Mensch hierbei spielen.
Michael Hagedorn: Du bist eine Zeit lang in den USA gewesen und hast für Apple in einer sehr strategischen Rolle gearbeitet. Gibt es etwas, das wir hier in Deutschland davon lernen können.
Jonas Andrulis: Ohne die Zeit bei Apple hätte ich Aleph Alpha nicht gründen können. Ich hatte das unglaubliche Glück, umgeben zu sein von absolut brillanten Menschen, das hat enorm geholfen. Was die USA, nicht nur Apple, und auch nicht erst seit ein paar Jahren einfach besser kann als Deutschland, ist, die großen Wetten einzugehen, die entscheidenden Themen und Strategien zu erkennen und dort wirklich vollen Einsatz zu zeigen. Wir sind da oft ein bisschen zögerlich.
Michael Hagedorn: Das Ziel ist, sowohl Wirtschaft als auch öffentliche Verwaltung mittels KI zu einem großen Sprung zu verhelfen. Mit welcher Strategie ist Aleph Alpha da unterwegs?
Jonas Andrulis: Wir haben im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen gesagt: Uns interessieren vor allem die kritischen, komplexesten Probleme in der Verwaltung, in der Sicherheit, im Gesundheitswesen und in der Finanzindustrie. Das Thema Technologiesouveränität ist wesentlicher Teil unserer Mission. Wir sind bei entscheidenden Kerntechnologien abhängig von US-Konzernen, vielleicht irgendwann von chinesischen Konzernen. Da sehe ich die Gefahr, dass KI, die noch viel größeren Einfluss auf das Leben aller Menschen haben wird, komplett fremdbestimmt abläuft. Das geht mir auch schon gegen mein Verständnis der liberalen Demokratie. Also das war von Anfang an die Idee zu sagen, darum geht es, das sind die Themen, bei denen es um die Wurst geht.
Michael Hagedorn: Ihr habt mit Luminous ein eigenes Modell mit einer eigenen Philosophie auf dem Markt. Ihr habt es mit den internationalen Schwergewichten zu tun. Wie findet ihr die richtigen Schwerpunkte?
Jonas Andrulis: Für unsere Partner und Kunden sind Transparenz und Kontrolle dieser Technologie entscheidend. Es geht nicht nur darum, einen Chatbot zu bauen, der hoffentlich das richtige Ergebnis sagt. Unsere Kunden haben Probleme, für die es oft nicht nur richtige oder falsche Antworten gibt. Wir fragen uns, wie können wir den Menschen Superkräfte geben? Und das ist auch der Fokus unserer Research. Wir schaffen neue Möglichkeiten, wie zum Beispiel mit der Erklärbarkeit oder der Multimodalität. Damit waren wir 2 Jahre vor Microsoft.
Michael Hagedorn: Spielt das Thema Partnerschaften eine besondere Rolle bei der Weiterentwicklung eures Geschäftes?
Jonas Andrulis: Ja, denn den Versuch, diese industrielle Revolution irgendwo bei den Hörnern zu packen, werden wir niemals allein hinkriegen. Man sieht es bei den großen Unternehmen. Open AI geht mit Microsoft, weil selbst eine Open AI, die Größenordnungen mehr Funding hat als wir, gemerkt hat, dass diese Mission so groß ist und man starke Partner braucht. Wir haben uns entschlossen, unsere Souveränität zu erhalten, also wir sind nicht exklusiv bei einem Cloud- oder Chipanbieter, sondern wir sagen, wir sind unabhängig in dem, was wir tun. Aber natürlich brauchen wir Partner, denn diese Wertschöpfungsprozesse, diese Umgestaltung, diese Transformation der Verwaltung und Industrie hat so viele Komponenten und Facetten, das können wir unmöglich allein schaffen.
Michael Hagedorn: Du hast im Kontext KI den Begriff der industriellen Revolution in den Mund genommen. Woran machst du das fest?
Jonas Andrulis: Was man merkt, ist, dass eine Basistechnologie ganz wesentliche Teile unserer Wertschöpfungsprozesse verändert. Stichwort: Wissensarbeit. Wir sehen bei vielen Kunden, dass die Technologie natürlich noch im Erwachsenwerden ist, aber bereits im heutigen Stand kann die Technologie ganz grundsätzlich Dinge ermöglichen, die entscheidend sind für viele Unternehmen und Kunden, die noch nie funktioniert haben. Es gab immer dieses Lamentieren der KI-Leute, die gesagt haben, kein Computer wird den Menschen so verstehen. Auch bei Apple hat man gesagt, die KI kann nicht so verstehen wie ein Mensch verstehen kann. Das kann sie jetzt immer noch nicht, aber sie kann die Ergebnisse trotzdem produzieren, und das ist halt eine riesige Veränderung. Dieser Trend ist auch nicht gedeckelt. Wir sehen, das ist ein Unterschied zu anderen Hypes, jedes halbe Jahr eine grundsätzlich neue Erweiterung dessen, was geht. Wir sind also mitten in diesem Boom, vielleicht so wie beim Internet, das war auch ein Hype, aber natürlich hat das Internet die Welt verändert. Es sind Internetunternehmen entstanden, die heute Imperien haben.
Michael Hagedorn: Was können Unternehmen oder Behörden nun tun, um sich den Herausforderungen zu stellen?
Jonas Andrulis: Es bewegt sich in allen Richtungen gerade und jeder Plattform- und Softwareanbieter nimmt generative KI und erweitert Angebote und baut neue Features. Das sollte man auf jeden Fall erstmal im Auge behalten. Es gibt aber auch Bereiche, in denen man selbst handeln muss. Schritt 1 ist, ich lerne, Technologie zu verwenden, die andere bauen. Eine Chatbot-Schulung ist erstmal ein guter Schritt. Wenn ich mich allerdings nur darauf beschränke, dann brauche ich mich nicht wundern, wenn das Potenzial eben an andere geht. Also muss ich auch selbst was bauen, und dann ist die Frage, wo kann ich selbst gestalten, wo bin ich oder sind meine Partner in einer Situation, dass wir eine außergewöhnlich gute Chance haben, selbst Neues zu schaffen, selbst die Zukunft zu gestalten. Die Antwort ist für jedes Unternehmen eine andere, aber das ist im Prinzip die Frage, die ich Kunden stelle: Wo ist bei euch im Unternehmen die Wissensarbeit, die am kritischsten ist für euren Unternehmenswert, und wie könnt ihr die neu gestalten? Da spielt auch Souveränität wieder mit rein. Wenn am Schluss die Technologie, die mein Customer-Support-Chat gebaut hat, nicht souverän unter meiner Kontrolle ist, ist das vielleicht ok. Wenn aber die Technologie, die ganz elementar die Grundlage meiner Wertschöpfung darstellt, jemand anderem gehört, ist das kritisch.
Michael Hagedorn: Wir haben vor ein paar Monaten unsere Strategie GRIP2 herausgegeben, und uns vorgenommen, 2027 die Eine-Milliarde-Euro-Grenze als Umsatz zu überschreiten. Interessanterweise ist das keine Zielzahl, sondern wir haben uns die Strategien der einzelnen Bereiche angeschaut, der einzelnen Fähigkeiten, die wir haben, und dann kamen wir ganz automatisch dorthin. Und zwar auf Basis von KI, die unser gesamtes Portfolio betreffen wird. Wir haben das größte Programm in der Firmengeschichte aufgesetzt, AI@Materna, und da fangen wir genau nach innen so an, wie du es als ersten Schritt vorhin gesagt hast. Wir haben eine Grundschulung für alle Menschen, und dann geht es einen Schritt weiter: Wie schreibe ich einen Prompt, wie sind die Datenschutzregeln, wo kann ich welche Daten hin laden? Dementsprechend werden wir auch eine Aleph-Alpha-Umgebung bei uns im Unternehmen schaffen, mit der wir die schützenswerten Dokumente bearbeiten können. Wir sind da wahrscheinlich auf dem richtigen Weg, oder?
Jonas Andrulis: Das klingt erstmal gut. Das Spannende ist dann, wie könnt ihr eure Experten in die Lage versetzen, dass sie eigene Innovation gestalten können. Jeder Bereich wird sich verändern, in jedem Bereich werden neue Themen entstehen, neue Produkte und Märkte. Mein Ziel wäre, dass ein Teil davon von euch kommt, dass ihr neue Prozesse, neue Märkte, neue Ideen habt und sagt, wir entwickeln eben damit Technologie. Damit geht man dann auch weiter als prompten. Prompten ist cool, aber letztendlich kann das jeder. Entscheidend ist vertikales Wissen, Zugänge, Märkte und Verständnis, das besonders ihr habt. Daraus kann man dann neue Produkte bauen.
Michael Hagedorn: Genau das ist der andere Teil unseres Programms. Es geht darum, unser Portfolio komplett zu durchleuchten und die innovativen Dinge aufzusetzen, die es braucht, um KI-unterstützt die Themen in eine neue Zeit zu katapultieren. Bleiben wir in der öffentlichen Verwaltung. Bei der E-Akte zum Beispiel ist das ganze Thema dokumentenzentrierte Vorgangsbearbeitung der Klassiker. Gerade da habt ihr eine enorme Stärke, denn es geht dort um schützenswerte Daten, um Informationen, die nicht überall hingehen dürfen, und aber auch um Effizienz. Denn in der öffentlichen Verwaltung gibt es einen enormen Fachkräftemangel, den man bewältigen muss. Ein anderes Thema ist, wenn Bürgerinnen und Bürger nach Dienst- und Serviceleistungen der Verwaltung suchen. Sie wissen oft nicht, auf welcher föderalen Ebene welche Leistung liegt. Daher bauen wir einen Assistenten, der sprachlich und in die Websites oder Apps integriert dafür sorgt, dass man sich zurechtfindet. Sind das Beispiele, die du meinst, wenn du von eigenen Innovationen sprichst.
Jonas Andrulis: Genau, und ich meine auch die Hoheit über Daten, Prozesse und Modellinhalte. Ein wichtiges Thema bei der Entwicklung unserer Modelle ist, dass wir keine ideologischen Veränderungen an den Modellen durchführen. Wir machen sie hilfreich, aber wir wollen keine besonderen Denkverbote. Wir bauen aber die Tools, damit der Kunde das dann machen kann, weil Europa vom Pluralismus geprägt ist. Das Humorverständnis eines deutschen Ingenieurs ist sicherlich anders als das eines Südspaniers. Da brauchen wir Technologie, die diese Länder und Kulturen in die Lage versetzt, ihre eigenen Werte und Inhalte zu prägen.
Michael Hagedorn: Lass uns nochmal reinzoomen in das Thema Vertraulichkeit von Daten oder auch Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse. Seht ihr euch mit Luminous besonders aufgestellt, ist das ein Differenzierungsfaktor?
Jonas Andrulis: Ja, absolut. Das eine ist die Infrastruktur-Souveränität: Unsere Technologie kann überall betrieben werden, auf jeder Art von Hardware, aber auch im eigenen Rechenzentrum oder in der Cloud beim Hyperscaler. Aber es geht eben auch auf eigener Hardware. Und das Ganze sogar eher Gap, also komplett ohne Verbindung zum Internet. Wir haben einen Kunden, der hat gesagt, wenn irgendeine von euren Komponenten anfängt, nach Hause zu telefonieren, gibt es Ärger. Das sind genau die Kunden, die wir haben wollen, also die extrem Wert legen auf die Sicherheit. Das andere ist die Nachvollziehbarkeit: Das ist eigene Innovation, das können aktuell nur wir, dass wir die Ergebnisse von KI auditierbar nachvollziehbar machen können und damit den Menschen in die Lage versetzen, nachvollziehen zu können: Warum glaubt die KI, dass das jetzt die richtige Antwort ist? Nur so können wir Fehler, die die KI eventuell macht, erkennen und korrigieren.
Michael Hagedorn: Ist diese Nachvollziehbarkeit vielleicht auch ein Mittel, um die Hemmschwelle zu überwinden, hier oder da auf KI zu vertrauen?
Jonas Andrulis: Ja, denn wir wissen ja, dass KI nicht so denken kann wie der Mensch, sondern eigentlich ein Mustererkenner ist. Oder ein Musterproduzierer, der total nützlich ist und der uns unglaublich die Welt verbessern wird und auch den Fachkräftemangel adressieren kann, aber eben trotzdem nicht Verantwortung übernehmen kann. Ich würde niemals für eine Sache, wo mir die Verantwortung wertvoll ist, einfach der KI glauben.
Michael Hagedorn: Welche Rolle spielt der Mensch in dieser industriellen Revolution?
Jonas Andrulis: Bei uns und für unsere Technologie bekommt der Mensch Superkräfte. Der Mensch ist ganz entscheidend. Wir designen Systeme, die den Menschen mitnehmen und in eine starke Rolle bringen. Das ist für uns so, aber sicherlich nicht für alle Arten, wie KI eingesetzt wird, da gibt es auch andere Philosophien. Wenn man ein Stück rauszoomt, dann müssen wir die Gesellschaftsordnung so umgestalten, dass wir ein faires Miteinander schaffen. Seit den 70er Jahren geht immer mehr der Wertschöpfung auf IP (Intellectual property = Geistiges Eigentum). Menschliche Arbeit spielt zwar immer noch eine entscheidende Rolle, aber IP wird immer stärker, und durch KI bekommt das Ganze einen Turbo. Unheimlich viel Wertschöpfung mit KI geht auf IP. Da ist es entscheidend, dass wir, Stichwort Fairness, Stichwort kulturelle, soziale Folgen dieser industriellen Revolution, eine Hand am Lenkrad haben und die Zukunft entsprechend mitgestalten.
Michael Hagedorn: Bei unseren Digitalisierungsprojekten initiieren wir schon immer einen Parallelstrang, der sich um das ganze Veränderungsmanagement, Change-Management, kümmert. Das ist bei KI-Projekten wahrscheinlich besonders wichtig, oder?
Jonas Andulis: Klar, wir haben eine Veränderung, die an die Substanz von Europa geht. Denn wo ist Europas Wertschöpfung, wenn nicht bei der Wissensarbeit? Dazu kommt die Geschwindigkeit. Ich habe noch nie etwas erlebt, was in dieser Geschwindigkeit Fortschritte macht.
Michael Hagedorn: Wie entwickelt sich das ganze Thema weiter in den nächsten Jahren?
Jonas Andrulis: Es gibt eine Studie von Open Philanthropy, in der sprechen sie von transformativer KI und sagen: transformative KI ist KI, die selbstständig neues Wissen schafft, mehr als 50 Prozent der globalen Arbeit macht und die so einflussreich ist, dass sie globales Machtgleichgewicht disruptieren und neu sortieren kann. Diese transformative KI erwarten sie ungefähr in 2030. Ich glaube, der Plan ist immer noch plausibel.
Dieses Interview ist ein Auszug aus unserem Format "Chefsesselgespräche", das in Kürze auf YouTube und in unserem Podcast zur Verfügung stehen wird.